analog oder digital

Fragen nach einer neuen Musikästhetik



Hypersound bis Hyperupic
Hyperkult bis Hyperspace

SPATIALIZATION COMPETITION

Interpretation of acousmatic works
u.s.w.

Alles ist heute „hyper“, es scheint mir verfehlt, noch über „analog“ zu sprechen.
Alles ist analysiert, perfekt, die oberste Qualitätsstufe des kompositorischen Handwerks ist Dank umfangreicher neuer Klangmaterialien erreicht.
Eine nahezu unüberschaubare Menge an Software zur Erstellung dieses Materials steht zur Verfügung und vermehrt sich noch täglich.
Der globale Begriff „Elektroakustische Musik“ deckt alle Formen der Klangerzeugung ab.
IST ER AUCH DEFINIERT?
Zwei wichtige Publikationen aus neuerer Zeit lassen mich daran zweifeln. Denn die umfassende Bezeichnung „Elektroakustische Musik“ ist für mich verwirrend, ohne genauere Definition inpraktikabel. Daher möchte ich hier einige Gedanken über Analoges, über Digitales verbreiten. Auslöser hierfür sind die Studien „Der Tonmeister als Interpret“ von Antje Grajetzky1 , ausschnittweise in den DEGEM Mitteilungen 43 veröffentlicht. Und die Arbeit „Elektroakustische Musik“ von Elena Ungeheuer2 .
Unter anderem können wir bei Frau Grajetzky lesen: “Aus der historischen Entwicklung Elektroakustischer Musik lassen sich im Wesentlichen zwei Tendenzen im Verhältnis von kompositorischer Praxis zu technischen Verfahrensweisen extrahieren. 1. Das Klangmaterial wird auf Grund der Hörwahrnehmung klassifiziert. Die kompositorische Praxis wird aus dem neuen Klangmaterial entwickelt. 2. Das Klangmaterial wird in Blick auf ein kompositorisches Konzept klassifiziert. Das Klangmaterial wird für die kompositorische Praxis entwickelt“. Und in einem weiteren Abschnitt heißt es: „Authentisch ist Elektroakustische Musik in dem Sinne, dass das Tonband das Werk ist und nicht das Notat“ (Ende Zitate).
Diese Aussagen sind innerhalb eines kleinen Bereichs reiner Tonbandkompositionen zutreffend, es fehlt also eine Zuordnung innerhalb des zuvor genannten globalen Begriffs. Die Elektroakustische Musik ist weder an ein Tonband, einen anderen Tonträger noch an ein bestimmtes Produktionsverfahren gebunden. Auch die Verstärkung und Klangbeeinflussung eines herkömmlichen Gitarrentones mittels eines entsprechenden elektronischen Gerätes ist Elektroakustische Musik.
Im Vorwort ihrer sehr umfangreichen Publikation schreibt Elena Ungeheuer:
„Ein Handbuch soll sein Sujet geschichtlich einbetten, alle wichtigen Begriffe erwähnen und in gewissem Rahmen als Nachschlagewerk dienen. Letzteres ist durch das ausführliche Sachregister im Anhang gewährleistet. Viele bedeutsame Termini elektroakustischer Musik sind in Einzeldarstellungen erläutert. Eine nicht übliche Darstellungsform findet die geschichtliche Entwicklung elektroakustischer Musik“. Ende des Zitats.
Ich möchte betonen: Elena Ungeheuers Publikation ist eine ausgezeichnete Zusammenstellung einzelner Teilgebiete der Elektroakustischen Musik. Doch fehlt zu meiner Überraschung eine Würdigung und Darstellung bedeutender Live-Elektronischer Werke, seien es Beschreibungen der Werke oder generell der Entwicklung neuer formaler Kompositionsverfahren mit und aufgrund der Elektronischen Klangumformung, Klangerweiterung. So ist z. B. auf Seite 63 eine inhaltlich sehr magere Erwähnung von Stockhausens Mantra zu finden, die an dem großartigen formalen Entwurf vorbei geht, vor allem aber an der kompositorischen Integration der Live-Elektronik, Klavierton original - Klavierton transponiert, und somit an einer neuen Klangästhetik . Der dieser Kurznotiz folgende Bericht über Thomas Kesslers „Piano-Control“ ist hingegen sehr ausführlich. Ich möchte mich an dieser Stelle nicht über Qualitätsmerkmale von neuen Geräten auslassen. Doch die Bemerkung sei mir erlaubt, dass der Einsatz eines kleinen Computers bei Kessler, eines Gerätes, das für anspruchsvolle musikalische Funktionen nicht gedacht war, für den Autor des Berichtes interessanter zu sein scheint, als ein eigens für die elektronische Klangumformung entwickelter neuer Ringmodulator für Stockhausens Mantra. Um über musikalische und technische Qualitäten zu entscheiden, sind nicht nur technische, sondern auch musikalische Kenntnisse Voraussetzung. Es ist schon erstaunlich, dass im Folgenden die Arbeit des Freiburger Experimentalstudios mit wenigen Worten gestreift wird. Besonders gravierend ist jedoch, dass das wohl nicht nur größte, sondern vor allem von seiner kompositorischen Verarbeitung neuer live-elektronischer Klangstrukturen einzigartige Werk unserer Zeit, Luigi Nonos „Prometeo“, unerwähnt bleibt. Gerade diese für mich unverständliche Tatsache zeigt mir, dass die Elektronische Klangumwandlung, Klangerweiterung in Echtzeit (man kann es auch Realtime nennen) im Kreise der „Computermusik-Speziallisten“ noch wenig bekannt ist. Ich möchte versuchen, im Folgenden dieses Thema etwas untechnisch, dafür auch für Musiker verständlich, zu interpretieren, ich muss jedoch gleich anfangs bemerken, dass es sich nicht um eine Lehrschrift über Elektronische Klangumformung handelt. In diesem Zusammenhang verweise ich auf meine Dokumentation über die Arbeit im Experimentalstudio der Heinrich - Strobel - Stiftung des Südwestrundfunks3 . Ebenfalls habe ich in meinen 4 Lehrheften auf meiner Website4 ausführlich die für die Musik wichtigen Funktionen der Elektronischen Klangumformung beschrieben. In den folgenden Zeilen geht es mir um mehr globale Probleme zu diesem Thema, unter anderem auch über Fragen zur Ästhetik und Qualität live-elektronischer Komposition und Interpretation. Für mich waren - und dies wurde immer wieder in eigenen Erfahrungen bestätigt - von Beginn an die Qualitätskriterien der elektronischen „Instrumente“ ganz wichtig. Ich habe immer versucht, Parallelen zu unseren herkömmlichen mechanischen Musikinstrumenten zu ziehen. So sind wir z. B. auf der einen Seite bestrebt, für ein Klavierkonzert den bestmöglichen Flügel zu bekommen, auf der anderen benutzen wir aber (im gegebenen Fall) für eine Aufführung einer Komposition mit elektronischer Klangtransposition zum guten Flügel einen minderwertigen Ringmodulator (schlechte Trägertonunterdrückung und Klangverzer-rungen). Weiterhin habe ich in der Praxis gelernt, dass die meisten von der Industrie angebotenen Geräte zwar messtechnisch gut, aber für musikalische Zwecke unzureichend sind. Hierzu ein kleines Beispiel: Für ein Zuspielband benötigte der Komponist Hans Zender die Töne des Herzklopfens mit veränderbaren Größen der Systole und Diastole. Ein Funktionsgenerator von Philips lieferte mir einen auf- und absteigenden Sinuston. Mit einem eigens für die Elektronische Klangumformung entwickelten Sekundfilter, bestehend aus 48 Bandpässen (Bandbreite eine musikalische Sekunde, Flankensteilheit 60 dB) filterte ich aus dem aufsteigenden und absteigenden Sinuston (Sweep) zwei eine Bandpassbreite tiefe Töne heraus. Es entstand ein Klopfen, dessen Größen ich durch Wechseln der Frequenz und der Form des Sinus-Sweeptones verändern konnte. Dabei spielten, und dies war für mich sehr wichtig, die Ein- und Ausschwingfunktionen der Analogfilter eine große klangliche Rolle. So produzierte ich simuliertes Herzklopfen vom gesunden bis kranken Herz, vom normalen Pulsschlag bis zum „Herzinfarkt“. Wenig später hat das Experimentalstudio die gleiche Filterbank digital entwickeln lassen. Das Ergebnis war großartig, vor allem die neuen Steuer- und Speichermöglichkeiten. Ein Versuch, meine „Herzklopfenproduktion“ zu wiederholen, schlug jedoch fehl. Die Flanken der Filter waren zu steil, das Pochen wurde zu einem mehr oder weniger breiten Knacksen. Der Aufwand einer Software-Erweiterung für eine variable Flankensteilheit war in diesem Einzelgerät zu aufwendig.
Ich möchte an dieser Stelle nochmals betonen, dass für mich nicht die digitale oder analoge Funktion der Geräte wichtig ist, sondern ein akustisches Ergebnis, das meinen Klangvorstellungen entspricht. Sicherlich stehen uns heute Computer mit einer Software zur Verfügung, mit denen das „Herzklopfen“ genau so reproduzierbar ist. Es ist nur die Frage des instrumentalen Aufwands.

Was verlange ich von einem elektronischen Instrument für Elektronische Klangumformung, Klangerweiterung, für die Schaffung neuer Klangräume in Echtzeit, global gesagt: für die Live-Elektronik?
Die Geräte müssen technisch so ausgelegt sein, dass sie den musikalisch-akustischen Bedingungen einer Komposition gerecht werden. Dies bedeutet, dass unter Umständen serienmäßig hergestellte Industriegeräte entsprechend modifiziert werden müssen. Dies betrifft digitale wie analoge Instrumente. Anpassungen an z. B. technische Rundfunk- und Fernsehnormen sollten eingehalten werden, sie sind auch meist für andere Räume wie Konzertsäle oder Theater gültig. Dies ist vor allem dann von Vorteil, wenn in solchen Räumen hauseigene Lautsprecheranlagen mitbenutzt werden. Lautsprecher sollten entweder Abhänge-Vorrichtungen oder Halterungen für Stative besitzen, die ein quasi kugelförmiges Bewegen derselben ermöglichen. Auch hier ist meist nach „Eigenkonstruktionen“ gefragt. Zum besseren Verständnis zwei Abbildungen einer Neukonstruktion im Experimentalstudio des SWR in Freiburg, das zweite Bild zeigt André Richard, den Leiter des Studios, bei der leichten und schnellen Korrektur einer Einstellung:



Diese Beweglichkeit der Lautsprecher ist vor allem für das Erhören eines Klangraumes immer sehr wichtig. Stundenlang habe ich mit Luigi Nono Standorte und Abstrahlrichtungen der Lautsprecher verändert, bis wir den vom Komponisten erdachten Klangraum verwirklicht hatten.

EIGENTLICH EINE SELBSTVERSTÄNDLICHKEIT, DASS AUCH DIE NOTWENDIGEN PROBEZEITEN FÜR AUFFÜHRUNGEN MIT ELEKTRONISCHER KLANGERWEI-TERUNG PROJEKTIERT WERDEN !

Wenn wir die Instrumente – für mich sind auch die elektronischen Geräte Instrumente – nun für eine bestimmte Komposition zusammengestellt haben, dann müssen wir sie auch bedienen können. Und hier beginnt das größte Problem der Live -Elektronik, und dies insbesondere mit der Digitaltechnik. Der Computer muss nun mal programmiert werden und Programmieren braucht seine Zeit. Ein kleines Beispiel aus der Praxis: Die Parameter eines Klangweges sollten während einer Probenarbeit mehrmals verändert werden. Dies bedeutet oft längere Programmierarbeit, außerdem, und dies ist für eine gute Probenarbeit notwendig, möchte ich diese Veränderungen auch gleichzeitig hören. Es gibt leider noch relativ wenig Software, die diese Forderung erfüllt. Es wäre sehr erfreulich, wenn für die digitalen Prozessoren auch entsprechende Bedieneinheiten vorhanden wären, damit auch der Computer zum „lebendigen Instrument“ wird. Wie schon gesagt, ich spreche von Live-Elektronik, von Elektronischer Klangumformung, Klangerweiterung und Klangsteuerung in Echtzeit und dieses Wörtchen Echtzeit, oder auch realtime, ist der Ursprung eben genannter Forderungen an die digitale Technik.
Die Live-Elektronik, die Klangerweiterung hat eine ihr eigene Musikästhetik, die ein Umdenken für den Computerspezialisten, für Computerkomponisten erforderlich macht. Zum besseren Verstehen meiner Aussage möchte ich hierzu über eine kleine Begebenheit berichten:
Im März 1985 waren Luigi Nono und das Freiburger Experimentalstudio von IRCAM, Paris, für 6 Konzerte im „L‘ Espace“ eingeladen. Unter anderem stand Nonos „Guai ai gelidi mostri“ für 2 Altstimmen, 6 Instrumentalisten und Elektronische Klangumformung auf dem Programm. Bei dieser Gelegenheit lernte Pierre Boulez unser neues Halaphon5 kennen. Er hat mich gebeten, in einer Probenpause seinen Mitarbeitern im IRCAM das Gerät vorzuführen. Auch der zu diesem Zeitpunkt im IRCAM arbeitende John Chowning, Stanford University S. Francisco, besuchte mein kurzes Referat über Bau und Funktionen des Halaphons. Für die Computerspezialisten des IRCAM war es außerhalb ihrer Gedankenwelt, dass in diesem Gerät Steuerkurven, z. B. Sinus oder Sägezahn, bereits vorprogrammiert waren und somit direkt abgerufen werden konnten. Veränderbar waren dann in Echtzeit, und außerdem im Raum direkt akustisch zu kontrollieren, die Zeitfunktion der linearen oder logarithmischen Hüllkurvenabläufe. Diese Veränderungen konnten vom Komponisten manuell realisiert werden. Natürlich war es möglich auch freie Kurvenformen während der Arbeit im Studio zu programmieren. Doch diese Arbeit wurde von Toningenieuren mit größeren Kenntnissen in Informatik durchgeführt . Die Bedienelemente waren übersichtlich und sinnvoll so angeordnet, dass sie nach einer kurzen Einführung auch leicht zu handhaben waren. Ja, und dies war für die Computerspezialisten zu „primitiv“. John Chowning, Computerfachmann und Musiker, kam dagegen nach der Vorführung zu mir und sagte nur „Peter you have done a good work“.

Ich glaube, dass diese Begebenheit den Unterschied zwischen „digitalem Denken“ und „analogem Denken“ in der Musik sehr deutlich macht, möchte jedoch betonen, dass ich von musikalischen Vorgängen in Echtzeit, also der Live-Elektronik ausgehe und nicht vom Komponieren mit dem Computer. Wichtig bleibt für mich immer das „Musizieren“ mit elektronischen Geräten, Instrumenten, egal welcher Bauart sie sind. Hier beginnt jedoch die Ästhetik im musikalischen Bereich zwischen analogem und digitalem Denken vollkommen auseinander zu driften, unabhängig von den Geräten, die wir benutzen.
Seit Beginn meiner Konzerttätigkeit mit elektronischen Instrumenten habe ich immer großen Wert auf eine sichtbare Aufstellung der Geräte gelegt. Sie sollten ja eine Erweiterung des herkömmlichen Instrumentariums sein und kein Fremdkörper, den man verstecken muss. Zu dieser neuen Instrumentenfamilie gehören auch die Lautsprecher. Leider ist dies heute mit dem Einsatz von großen Computern auch bei der Elektronischen Klangumformung nicht mehr möglich. Schuld daran sind die erforderlichen lauten Kühlaggregate. Für kleinere Anlagen genügen meistens Mikroprozessoren, deren Kühlung nicht stört. Mit diesem Verlust des Sehens der elektronischen Instrumente beginnt aber eine neue Musikästhetik, die sich wesentlich vom Grundgedanken der Live-Elektronik abwendet. Auch hierzu ein kleines Beispiel aus der Praxis:
Luigi Nono hat in seiner Komposition „Caminantes...Ayacucho“ für Altstimme, Bassflöte, 2 Chöre, Orchester und Elektronische Klangumformung, unter anderem eine Filterbank eingesetzt, die live im Orchester nach der Partitur, dem Dirigenten, den Musikern des Orchesters „gespielt“ (eingestellt) werden muss. Ein neues Instrument im Kreise der Orchesterinstrumente. Ich glaube, dass wohl kaum überzeugender die Integration elektronischer Geräte in das kompositorische Denken eines Komponisten, in seine Musik, demonstriert werden kann. Dies ist auch meine erste Antwort auf die Frage nach einer neuen Musikästhetik „Elektroakustischer Musik“.
Ein weiteres Beispiel aus meiner Konzertpraxis:
In einem Konzertsaal in Köln (WDR) wurden nicht nur unsere technische Anlage, sondern auch die Lautsprecher mittels kleiner Scheinwerfer ein wenig beleuchtet. Nono wollte damit die Zugehörigkeit der Technik zu den Interpreten dokumentieren. Heute sieht man vor allem nur noch gigantische Mischpulte und Bildschirme. Die „Instrumente“ die damit gespielt werden, stehen unsichtbar weit abseits.
Mozart beschwerte sich schon zu Lebzeiten über zu schnelle Interpretationen seiner Werke. Nono hat z. B. immer wieder die Minimaldauer von Pausen genau angegeben, um den „Atem“ innerhalb einer musikalischen Interpretation, das Hören der „Stille“ nicht zu verlieren. Die Zeitfunktion eines analogen (instrumental, vokal etc.) musikalischen Ablaufs ist nie konstant. Hierzu ein Beispiel aus meiner Arbeit im Experimentalstudio:
Für die praktische Vorführung bei Seminaren oder auch Schulbesuchen im Studio habe ich die ersten 10 Takte aus J. S. Bachs C-Dur Präludium (Wohltemp. Klavier Nr. 1) im Synclavier programmiert (music V). Um die Zeitfunktions-Unterschiede zwischen einer live-gespielten und einer vorprogrammierten Fassung zu verdeutlichen, spielte ich zuerst den Anfang des Präludiums live auf dem Synclavier, wobei ich allerdings versuchte, rhythmisch übertrieben exakt zu spielen unter Verwendung der gleichen Klangfarbe wie die der Programmfassung. Danach führte ich die programmierte Aufnahme mit dem Synclavier vor und stellte dann den Zuhörern die Frage: Kann man einen gravierenden Unterschied zwischen beiden Fassungen hören? Die Antwort war immer einstimmig: rhythmisch ist nur wenig Unterschied zu hören. Für einen musikalischen Eindruck war der gespielte Ausschnitt natürlich zu kurz. Nun habe ich von beiden Fassungen die Zeitfunktionen der einzelnen Tonlängen ausdrucken lassen. Das Ergebnis war für die Zuhörer überraschend, denn während die Tonlängen in der programmierten Fassung mathematisch genau waren, hatte in meiner live-gespielten Fassung nicht ein „Achtel“ die gleiche Zeitdauer wie das andere. Natürlich waren es nur kleine Unterschiede im Millisekundenbereich, doch spielte man das ganze Präludium, so ergab die Summe der Unterschiede eine beachtliche Größe. Und diese Zeitdifferenz ist es dann, die das in seiner Gesamtlänge gespielte Präludium lebendiger, mit mehr musikalischer Spannung erklingen lässt. Ich möchte diese Tatsache mit als den Atem in der Musik bezeichnen.
Dass dies auch für mehr „technische“ Produktionen zutrifft, beweist ein weiteres Beispiel: Von Stockhausens „Studie 2“ gibt es zwei Fassungen: die 1954 vom Komponisten abgemischte und „von Hand“ ausgesteuerte erste Aufnahme des Kölner Studios. 1975 produzierte das Schwedische Computerstudio in Stockholm eine Computerfassung der gleichen Komposition. Abgesehen von den technisch bedingten Klangunterschieden, war die Stockholmer Fassung auch die „exaktere“ Produktion. Ende der 70-ziger Jahre bat mich Stockhausen, unbedingt beide Fassungen abzuhören, zu vergleichen. Ich musste danach seinem Urteil zustimmen, dass in der wohl technisch besseren Aufnahme doch ein bestimmtes musikalisches Flair, eine lebendige Ausdruckskraft fehlte.
Was hat dies alles nun mit der Elektronischen Klangumformung, Klangerweiterung zu tun? Ich möchte damit sagen, dass wir zwischen der Realisation einer mittels Computer konzipierten Komposition und der eines Werkes mit integrierter Live-Elektronik deutlich unterscheiden müssen, und dies vor allem im musikalischen Ablauf, in der Aufführungspraxis. Man kann einen programmierten und einen gespielten musikalischen Atem nicht miteinander vergleichen; während ersterer sich immer gleich wiederholt, wird im analogen Ablauf einer musikalischen Interpretation dieser, von mehreren Fakten bedingt, neu gestaltet. Dies setzt somit eine unterschiedliche Integration des Computers schon im Entwurf einer Komposition voraus.
Aus diesem Gedankenkomplex heraus habe ich versucht, einen anderen, einen neuen instrumentalen Aufbau zu entwickeln, der vor allem der Live-Elektronik, der Elektronischen Klangerweiterung in Echtzeit dienen soll. Natürlich handelt es sich um einen, ich möchte sagen, Prinzip-Entwurf, dessen Besetzung im Einzelnen je nach Bedarf ausgewählt werden kann. Die Geräte sollen ein Instrumentalensemble sein mit unterschiedlicher Klangeffizienz. Wenn bei einem Orchesterkonzert einem Geiger eine Saite reißt, so muss das Konzert aus diesem Grund nicht abgebrochen werden; der Spieler wird versuchen, die fehlende Saite musikalisch zu „umspielen“. Ein Zentralcomputer allein birgt in sich die Gefahr, dass bei einer Störung die gesamte Live-Elektronik ausgeschaltet wird. Fällt nur ein Microprozessor in einem Einzelgerät aus, so kann dieser oder das ganze Gerät schnell ausgewechselt werden.
Als das Experimentalstudio vor ca. 25 Jahren bei der Firma Franz in Lahr die Entwicklung eines digitalen Verzögerungsgerätes in Auftrag gab, war meine dringende Forderung, dass im Falle eines Defekts einer digitalen Stufe die Verzögerungszeit betriebsbedingt zwar etwas kürzer werden könnte, das Gerät jedoch weiterhin arbeitete. Die veränderte Zeitfunktion konnte während eines Konzerts von den Interpreten oder dem Dirigenten so ausgeglichen werden, dass trotz der Störung die Weiterführung eines musikalischen Ablaufs ermöglicht war.
In meinem Klangumformungs-Orchester habe ich alle Geräte zur Klangerweiterung und Klangsteuerung im Raum getrennt eingesetzt. Damit können sie entweder als Einzelinstrument unabhängig oder von einem Zentralcomputer direkt kontrolliert werden. Auch ist während der Probenarbeit eine schnellere Veränderung der Parameter der einzelnen Geräte aufgrund des besseren und schelleren Zugriffs möglich.
Meine Zeilen nehmen nicht in Anspruch, eine umfassende Information über Elektroakustische Musik zu liefern. Sie sollen mehr zum Nachdenken über unterschiedliche Fragen der analogen oder digitalen Musikproduktionen anregen. Für die Live-Elektronik möchte ich jedoch unbedingt empfehlen, das hierfür notwendige Instrumentarium wieder sichtbar bei den Interpreten zu postieren, damit nicht nur die „Tastatur“, sondern auch das zugehörige „Instrument“ sich in ein „analoges“ Ensemble integrieren können. Dies ist für eine Antwort auf die Frage nach einer neuen Musikästhetik erforderlich.
Zum Anhang:
Mein Entwurf für ein neues Instrumentarium der Elektronischen Klangumformung, Klangerweiterung, Klangsteuerung und Raumklang: Es handelt sich um eine Prinzipschaltung, d. h., die einzelnen Geräte können digital oder analog sein. Auch die Verbindungen zwischen den Positionen der Instrumente werden heute sicherlich technisch sehr unterschiedlich sein. Mir geht es bei dieser Zeichnung vor allem um die Gruppierung der einzelnen Klangfunktionen und deren musikalische Zusammengehörigkeit. Ich möchte gleichzeitig davor warnen, aufgrund der großartigen und schnellen Weiterentwicklung der Digitaltechnik, des Computers, oben genanntes speziell-bedienbares elektronisches Instrumentarium und dessen Klangfunktionen dem technischen Fortschritt zu opfern. Der bekannte amerikanische Computerwissenschaftler, Joseph Weizenbaum, schreibt in seinem Buch „Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft“6 unter anderem:
„Eine der Positionen, die ich hier verteidigen möchte, ist scheinbar jedermann einsichtig: dass es nämlich wesentliche Unterschiede zwischen denkenden Menschen und denkenden Maschinen7 gibt. Wie immer intelligente Maschinen auch hergestellt werden können – ich bleibe bei der Auffassung, dass bestimmte Denkakte ausschließlich dem Menschen vorbehalten sein sollten“ (Ende des Zitats).


1 Deutsche Gesellschaft für Elektroakustische Musik (DEGEM), Mitteilungen Nr. 43

2 Elena Ungeheuer (Hg.), Elektroakustische Musik, ISBN 3-89007-425-1, Laaber-Verlag, 2002.

3 H. P. Haller, Das Experimentalstudio der Heinrich-Strobel-Stiftung des Südwestfunks Freiburg 1971- 1989, Baden-Baden, Nomos Verlagsgesellschaft, 1995, Bd. 1 und 2.

4 h.p.haller.bei.t-online.de

5 vgl. H. P. Haller, Das Experimentalstudio der Heinrich-Strobel-Stiftung des Südwestfunks Freiburg 1971- 1989, Baden-Baden, Nomos Verlagsgesellschaft, 1995, Bd. 1, Seite 86, Abbildung T37.

6 Joseph Weizenbaum,“ Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft“, suhrkamp taschenbuch wissenschaft 274, ISBN 3-518-27874-6

7 denkende Maschinen = Computer